Stromerpädgogik
Es ist uns wichtig, dass die Lebewesen artgerecht leben können – und dazu gehören nicht nur die Tiere, die in extensiver Weidehaltung das Gras fressen, sondern auch die Menschenkinder – und dass nicht nur im minderjährigen Alter. Aber bei Kindern ist es uns besonders wichtig. Dass großes Elend Gefahren für die Gesundheit des ganzen Menschen mit sich bringt, ist hinlänglich bekannt. Dass aber auch zu großer Wohlstand mit einhergehender Bequemlichkeit großen Schaden anrichten kann, versucht man heute in aufwendigen Studien zu Allergien, ADHS und anderen Verhaltensauffälligkeiten, Adipositas etc. bei Kindern herauszufinden. Dabei ist die Sache ganz einfach und so schwierig zugleich – auch Menschenkinder wollen be-greifen können, sie wollen lernen und sind neugierig. Kinderfeindliche Lebensräume, Gesellschaftliche Zwänge, eine überholte Belehrungsschule sowie die Bequemlichkeit der modernen Welt gehen so gar nicht überein mit den kindlichen Bedürfnissen und machen es den Eltern nicht gerade leicht, Räume für ihre Kinder jenseits dieser Zwänge zu eröffnen.
Gemeinsam mit unseren Kindern haben wir deshalb über die Jahre eine „Stromerpädagogik“ entwickelt. Das heißt, wir schaffen immer wieder bewusst (und die Kinder erobern sie ganz automatisch und unbewusst) Räume zum „Stromern“, zum Experimentieren und Kreativwerden, zum „Moddern“ im Schlamm und Bauen, zum Ausprobieren und anspruchsvollem Bewegen, zum selbständigen Verantwortung übernehmen für sich, für die eigene Sicherheit und die eigenen Bedürfnisse und die ihrer Spielkameraden oder eine Aufgabe (z.B. die Hühnereier abzusammeln und am Ganter vorbei über zwei Zäune sicher nach Hause zu bringen). Das bedeutet, dass die Kinder Kleidung anhaben, die den Anforderungen, dem Wetter und dem Schmutz gewachsen ist. Dass aus Händen und Füßen immer wieder Schiefer oder Stacheln entfernt werden müssen, genug Pflaster im Haus ist und es neben großem Gottvertrauen eine gute homöopathische Hausapotheke und tröstende Worte gibt. Dass es auf dem Grundstück und im Haus nicht aussieht wie in einem Lifestylemagazin oder so ordentlich aufgeräumt ist wie in Nachbars Garten, das bereits ausrangierte Dinge immer wieder auftauchen und in weitere Teile zerlegt neuen Verwendungen zugeführt werden (und wir schon mal darüber fluchen, wenn wir gerade darüber stolpern). Dass Gebäude und Gärten und Baustellen auch immer Spiel- und Bewegungs- und Arbeitsraum für Kinder sind und das die Umgebung (je nach Alter) selbstständig erobert und (je nach Nutzung) verändert werden darf. Zum Lebensraum gehören auch die Nachbarhöfe mit ihren Bewohnern, Wälder und Bäche, die kleinen Felslandschaften und abgeernteten Felder und Wiesen in der Umgebung. Auch Nachbardörfer mit den dort lebenden Kindern und Spielmöglichkeiten, den Dorffesten und Bräuchen und dem Tante Emma-Laden und dem Kirchgemeindeleben. Sie machen Begegnungen mit Tieren und Pflanzen, gestalten Natur um und erfahren sich als Geschöpfe, die durch Kooperation mit anderen oder auch ganz für sich allein ihre Welt kontrollieren und zu beherrschen, Probleme zu lösen in der Lage sind – eine wichtige Komponente der Resilienz, also der psychischen Widerstandsfähigkeit in Bewältigungsmustern und Strategien, die unsere Kinder stark macht. Studien zufolge sind nämlich eher die Menschen resilienter, also gegenüber Schicksalsschlägen des Lebens gewappneter und erfolgreicher, die bereits als Kinder Herausforderungen gemeistert haben und sich als selbstwirksam empfinden konnten.
Biologisch sind wir Menschen noch angepasst für ein Leben in der Wildnis. Dazu brauchen v. a. die Kinder als Grundlage auch Natur, die sie erfahren und bewältigen lernen. Sie brauchen möglichst viel Bewegung in ihr. Sie brauchen Primärerfahrungen – nicht nur den Aufguss der Belehrungsschule aus dem letzten Jahrhundert aus zweiter Hand (und am besten noch gekoppelt mit Leitungsnachweis). Sie brauchen Erwachsene, die ihnen Vorbild und Anregung sind (und zwar mit einem Medium, d.h. über eine gemeinsame, ernsthafte Arbeit oder Aufgabe) und dann aber auch die Kinder in Ruhe lassen können, damit sie ihre eigenen Erfahrungen und Studien betreiben, Welt aneignen und Verantwortung übernehmen können. Sie brauchen die Möglichkeit, gleichwertig mit den Erwachsenen an der „Welt zu bauen“, teil zu haben und nicht in Kinderghettos weggesperrt zu sein. Sie brauchen Erwachsene, die ihnen etwas zumuten, weil sie Vertrauen in die Kinder und ihre Fähigkeiten haben. Die Kinder wollen gefordert sein, damit sie sich stolz und geachtet und ernst genommen fühlen können. Und damit meinen wir nicht, dass das Kind auf Biegen und Brechen den Schachausscheid gewinnen, bei „Jugend musiziert“ bejubelt und beim Leistungsschwimmen auf Bestzeit getrimmt werden muss. Es würde reichen, wenn Eltern ihr Kind bei jedem Wetter mit dem Fahrrad zur Schule begleiten statt mit dem Auto vorzufahren, die Kinder ihre Frühstücksbrote allein zurecht machen lassen und die Verantwortung für einen Teil des Haushaltes übergeben. Sie wollen mitmachen beim Renovieren, Haus bauen oder was auch immer das gemeinsame Projekt der Familie ist – auch wenn es Zeit und Nerven kostet und die selbst gezimmerte Bude nicht wie im Heimwerkermagazin aussieht und es deshalb Mut braucht, den tot gepflegten Vorgärten der Nachbarn etwas entgegen zu setzen…